Erosion der Unternehmensmitbestimmung – mindestens 2,4 Millionen Beschäftigten bleibt die paritätische Mitbestimmung in Unternehmen vorenthalten

Neue Studie: Höchste Zeit für die von der Regierung angekündigten Reformen

Die deutschen Mitbestimmungsgesetze sollen die demokratische Beteiligung von Arbeitnehmer*innen in Unternehmen sichern. Sie sind aber äußerst lückenhaft und bedürfen dringend einer Reform, wie eine neue Studie zur Erosion der Unternehmensmitbestimmung des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung belegt.*


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Wissenschaftliche Forschung zeigt immer wieder, dass paritätische Mitbestimmung in Unternehmen einen hohen Wert für die soziale Marktwirtschaft Deutschlands bietet und auch messbare ökonomische Vorteile bringt. Trotz dieser positiven Effekte steigt die Zahl der Unternehmen, die Mitbestimmung umgehen oder bewusst vermeiden. So wurde 2022 mindestens 2,45 Millionen Beschäftigten in Großunternehmen eine paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten versagt, ergibt die neue I.M.U.-Studie. Damit waren rund 300.000 Menschen mehr betroffen als noch 2019. Viele Arbeitgebende nutzen rechtliche Lücken, über die Mitbestimmung legal umgangen werden können, weitere ignorieren sogar geltende Gesetze, weil dies nicht mit wirksamen Sanktionen bewehrt ist. Im Ergebnis besaßen zuletzt von 1084 Unternehmen, die in Deutschland mehr als 2000 Beschäftigte haben und keinem „Tendenzschutz“ unterliegen, lediglich 656 den nach den Mitbestimmungsgesetzen ab dieser Größe vorgesehenen paritätisch besetzten Aufsichtsrat. Das entspricht einer Quote von nur noch rund 60 Prozent mitbestimmter Unternehmen, während es 2019 noch gut 67 Prozent waren. Von den somit 428 Großunternehmen ohne paritätische Mitbestimmung bedienten sich 256 mit insgesamt mehr als 1,7 Millionen Beschäftigten in Deutschland legaler juristischer Kniffe zur Mitbestimmungsvermeidung – sei es gezielt oder als Nebeneffekt. Weitere 172 mit mehr als 720.000 Beschäftigten ignorierten rechtswidrig die Gesetze (siehe auch Abbildung 1 und 2 in der pdf-Version dieser PM; Link unten).

„Mindestens vier von zehn Großunternehmen verweigern ihren Beschäftigten mittlerweile also die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat – sei es, indem sie nationale Gesetzeslücken oder durch europäisches Recht geschaffene Vermeidungsmöglichkeiten gezielt oder als Nebeneffekt ausnutzen, sei es indem sie die gesetzlichen Vorschriften schlicht ignorieren“, konstatiert Studienautor Dr. Sebastian Sick. Gegenüber 2019 ist die Zahl drastisch gestiegen – um mindestens 121 Unternehmen. Legale und illegale Mitbestimmungsvermeidung haben wesentlich dazu beigetragen, dass mittlerweile 111 Unternehmen weniger paritätisch mitbestimmt sind als vor gut 20 Jahren, so Sick. Auch im wichtigsten deutschen Börsensegment ist der Trend deutlich sichtbar: Hatte 2015 im damaligen DAX30 lediglich ein Unternehmen keine paritätische Mitbestimmung, so waren es bei der Bildung des DAX40 im Jahr 2021 zwölf. „Das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft ist hierdurch ernsthaft gefährdet“, warnt der I.M.U.-Unternehmensrechtsexperte, der auch Mitglied der Regierungskommission zum Deutschen Corporate Governance-Kodex ist. Damit werde auch eine wichtige Ressource der deutschen Wirtschaft geschwächt. Denn Untersuchungen zeigen, dass mitbestimmte Unternehmen gerade in Umbruch- und Krisenzeiten erfolgreicher sind, dass sie ökologisch und sozial nachhaltiger agieren und mehr investieren (weitere Informationen unten).

Die Bundesregierung hat nach der letzten Bundestagswahl erklärt, einige der Gesetzeslücken schließen zu wollen, die es aktuell beispielsweise leicht machen, über die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) die Mitbestimmung von Beschäftigten zu verhindern. „Noch sind den Ankündigungen im Koalitionsvertrag keine Taten gefolgt. Doch wenn die Vorhaben umgesetzt würden, wären das zweifellos Schritte in die richtige Richtung“, betont Jurist Sick. „Sie reichen allerdings nicht aus. Einzelne Schlupflöcher zu schließen, während andere, ähnlich große, offen bleiben, würde zu einem Ausweichen auf andere Vermeidungsstrategien führen – oder, solange Verstöße gegen die Mitbestimmungsgesetze nicht ernsthaft sanktioniert werden, zum Ignorieren der Mitbestimmungspflicht.“ Anforderungen an ein wirksames Konzept zur Sicherung der Mitbestimmung hat das I.M.U. in seiner Studie formuliert. Neben notwendigen Reformen der nationalen Gesetzgebung zählen dazu auch Verbesserungen auf europäischer Ebene (mehr dazu am Ende der PM).

Familienunternehmen hebeln Mitbestimmung besonders häufig aus

Basis der neuen Studie sind Datenanalysen, die das Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht der Universität Jena im Auftrag des I.M.U. vorgenommen hat. Ein Team unter Leitung von Prof. Dr. Walter Bayer hat dafür unter anderem Unternehmensdatenbanken, Jahresabschlussdaten und Handelsregister umfangreich ausgewertet. Trotz der bundesweit einmaligen intensiven Recherche bleibe eine Dunkelziffer, die neuen Zahlen zur Mitbestimmungsvermeidung beschreiben also eher die Untergrenze des Problems, betonen die Fachleute. 

Auch so zeigt die Studie mit Datenstand 2022: In mehreren Branchen, darunter Facility Management, Leiharbeit, im Handel oder Gesundheitsbereich, hebelt sogar eine Mehrheit der Großunternehmen die paritätische Mitbestimmung legal oder illegal aus. So sind allein in großen Handelsunternehmen mindestens 930.000 Beschäftigte betroffen, in dieser Branche haben gerade einmal 28 Prozent der Firmen mit mehr als 2000 Beschäftigten einen mitbestimmten Aufsichtsrat. In der Industrie ist die Quote der Unternehmen, die eine Form der Mitbestimmungsvermeidung oder -ignorierung betreiben, mit 26 Prozent zwar unterdurchschnittlich. Aber auch dort summieren sich die Zahlen auf mindestens 98 Unternehmen mit mindestens 360.000 Beschäftigten (Abbildungen 2 und 3 in der pdf-Version).   

Besonders häufig umgehen oder ignorieren Familienunternehmen die Mitbestimmungsgesetze: 66 Prozent der Unternehmen, die Mitbestimmung über Gesetzeslücken vermeiden, sowie 60 Prozent der Ignorierer sind in Familienbesitz.

Bei mittelgroßen Unternehmen, in deren Aufsichtsräten die Beschäftigten ein gesetzliches Anrecht auf ein Drittel der Mandate haben, setzt sich das Problem fort, zeigt die Studie: Rund 1470 Unternehmen in Deutschland haben 501 bis 2000 Beschäftigte im Inland und den für diese Größenklasse gesetzlich vorgesehenen drittelbeteiligten Aufsichtsrat. Für weitere mehr als 800 Unternehmen gilt die Drittelbeteiligung zwar ebenfalls, sie ignorieren aber gesetzeswidrig die Vorschrift. Sie haben keine Konsequenzen in Form von wirksamen Sanktionen zu befürchten. Extrem lückenhaft ist das Gesetz zudem bei seinem Geltungsbereich. Durch die so genannte „Drittelbeteiligungslücke“ im Gesetz sind rund 750 Unternehmen ähnlicher Größe erst gar nicht erfasst. 

Mitbestimmung zu vermeiden, ist schlecht für den Standort

„Wenn demokratische Rechte nur auf dem Papier stehen, stellt das sowohl die Glaubwürdigkeit eines Rechtsstaats in Frage als auch die soziale Marktwirtschaft. Mitbestimmung auszuhöhlen ist politisch und ökonomisch ein Riesenfehler, eine Hypothek für die Zukunft der sozial-ökologischen Transformation“, sagt Dr. Daniel Hay. Nur durch die Sicherung und Weiterentwicklung von Mitbestimmung werde ein Vorteil für den Standort Deutschland erhalten, betont der wissenschaftliche Direktor des I.M.U. Zahlreiche ökonomische Studien belegen, dass Unternehmen, in denen die Beschäftigten über Betriebsräte und im Aufsichtsrat mitbestimmen, erstens bessere Arbeitsbedingungen bieten. Zweitens weisen mitbestimmte Unternehmen bei zentralen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen bessere Ergebnisse auf, sie verfolgen häufiger ein forschungs- und qualitätsorientiertes Geschäftsmodell, investieren mehr und betreiben seltener legale Steuervermeidung. Und sie agieren messbar nachhaltiger als Unternehmen ohne Mitbestimmung, wie eine aktuelle Auswertung ökologischer und sozialer Kennziffern der ESG-Indizes zeigt (siehe auch den Forschungsüberblick unten für alle Befunde).

Ganz besonders in Phasen von Krisen und Transformationsdruck schneiden Unternehmen besser ab, wenn Arbeitnehmer*innen im Aufsichtsrat mitentscheiden, hat eine Studie von Ökonomieprofessoren der Universitäten Göttingen und Marburg am Beispiel der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ergeben. „Mitbestimmung ist kein Nice-to-Have. Wir brauchen sie, wenn wir auch künftig erfolgreich sein wollen“, sagt Hay.

Hans-Böckler-Stiftung direkter Link zum Artikel