Kindergrundsicherung: Niveau müsste je nach Alter 6 bis 30 Prozent höher sein, um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen

Neue Berechnungen für realistisches Existenzminimum

Die Höhe der geplanten Kindergrundsicherung reicht nicht aus, um Entwicklungsmöglichkeiten und soziokulturelle Teilhabe zu sichern, die wichtige Elemente des Existenzminimums sind. Für ein angemessenes Niveau, das Kinderarmut nachhaltig verhindert, müssten die Beträge anders berechnet werden.


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Je nach Altersstufe der Kinder und Jugendlichen würden sie dann für 2025, wenn die Grundsicherung starten soll, zwischen 30 und 191 Euro höher ausfallen als aktuell von der Bundesregierung vorgesehen. Das entspricht rund sechs bis 30 Prozent mehr je nach Alter, ergibt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie der Verteilungsforscherin Dr. Irene Becker.*

Die Kindergrundsicherung soll Kinder und Jugendliche vor Armut schützen – und insgesamt zu mehr Chancengerechtigkeit beitragen. Ob das gelingt, hängt auch davon ab, wie die Leistungen berechnet werden. Zwar kann die angestrebte Vereinfachung der Antragsverfahren ebenfalls einen Beitrag leisten, wie kürzlich Böckler-geförderte Simulationsrechnungen gezeigt haben: Wenn dadurch alle aktuell 2,3 Millionen Kinder mit Unterstützungsanspruch auch wirklich Leistungen erhalten würden – statt wie bisher nur rund eine Million –, wirkt sich das vor allem längerfristig positiv aus.** Unabhängig davon sind aber die derzeitigen gesetzlichen Verfahren zur Bemessung des soziokulturellen Existenzminimums „in mehrfacher Hinsicht unzulänglich“, betont Forscherin Becker in der neuen Untersuchung. Das unterstreicht auch Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung: „Das aktuelle Konzept der Bundesregierung stellt eine – in der Intention sinnvolle – Verwaltungsreform dar, aber das allein reicht nicht. Niedrigere bürokratische Hürden bei der Antragstellung sind wichtig, sie ändern jedoch nichts daran, dass die geplanten Leistungen absehbar zu niedrig sind.“

Der Erfolg einer Kindergrundsicherung bei der Bekämpfung von Kinderarmut „steht und fällt mit der Bemessung des zu sichernden Existenzminimums. Es bedarf daher eines normativ akzeptablen und methodisch stringenten Verfahrens“, erklärt Sozialexpertin Becker. Derzeit wird das soziokulturelle Existenzminimum nach einem relativ komplexen Verfahren berechnet, in dem sich „objektive“ Statistiken zu Konsumausgaben von Haushalten im untersten Einkommensbereich und zum Teil, so Becker, „willkürliche“ politische Vorgaben mischen. Beispielsweise werden etliche Ausgaben generell gestrichen – unter anderem für Taschen, Regenschirme, das Eis in der Eisdiele, Pflanzen und Tierfutter. Insgesamt betreffen die Streichungen rund ein Viertel der im ersten Schritt ermittelten Referenzausgaben. Durch die Eingriffe wird der zur Sicherung des Existenzminimums notwendige finanzielle Bedarf also rechnerisch weiter „gedrückt“. „Die Vorgehensweise führt zu einer systematischen Bedarfsunterdeckung“, kritisiert Becker.

Ein von der Forscherin entwickeltes Alternativkonzept räumt damit auf und macht die Berechnung nachvollziehbarer. Im Kern geht es darum, die Konsumausgaben in der Mitte der Einkommensverteilung als Bezugspunkt zu nehmen. So wäre es nach Analyse der Armutsexpertin etwa plausibel, soziokulturelle Teilhabe als gerade noch gegeben zu definieren, wenn Haushalte bei den Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Ernährung, Bekleidung und Wohnen nicht mehr als 25 Prozent und bei sonstigen Bedürfnissen nicht mehr als 40 Prozent von der Mitte nach unten abweichen. Eine Streichung einzelner Ausgabenpositionen würde – anders als bisher – nicht erfolgen. Zudem sollten Haushalte, die aufgrund ihres niedrigen Einkommens Anspruch auf Grundsicherungsleistungen hätten, diesen jedoch nicht wahrnehmen, generell aus den Berechnungen ausgeklammert werden – die Einbeziehung solcher Haushalte in „verdeckter Armut“ ist ein weiterer verzerrender Faktor der bisherigen gesetzlichen Berechnungen des Existenzminimums.

Außerdem sollte die Kindergrundsicherung mit der realen Entwicklung der Verbraucherpreise Schritt halten. Die Wissenschaftlerin empfiehlt eine kontinuierliche Anpassung mindestens entsprechend der aktuellen Entwicklung des Verbraucherpreisindex (VPI). Ein spezieller Preisindex ist nicht erforderlich, da die Kindergrundsicherung – anders als die teilindividualisierten Systeme der Grundsicherung und des Bürgergeldes – als umfassende Pauschale einschließlich auch der Kosten der Unterkunft und Heizung konzipiert ist. Für Situationen mit tendenziell deutlich steigenden Preisen sollten zudem unterjährige Anpassungen vorgesehen werden.

Berechnungen mit dem von Becker entwickelten Modell zur Ermittlung eines soziokulturellen Existenzminimums, ausgeweitet auf das Konzept der Kindergrundsicherung und angepasst an die Entwicklung der Verbraucherpreise, ergeben spürbar höhere Beträge als nach der derzeitigen gesetzlichen Bedarfsermittlung: Danach läge der monatliche Höchstbetrag für Kinder in Haushalten mit sehr niedrigen Haushaltseinkommen 2025, wenn die Grundsicherung starten soll, für Kinder unter sechs Jahren bei 560 Euro, für Kinder von sechs bis unter 14 Jahren bei 693 Euro und für Jugendliche bis unter 18 Jahren bei 827 Euro. Zum Vergleich: Laut Gesetzentwurf würden die Leistungen 2025 nur bei 530 Euro (30 Euro weniger), 557 Euro (136 Euro weniger) und 636 Euro (191 Euro weniger; siehe auch die Tabelle in der pdf-Version dieser PM; Link unten) liegen. Das Alternativkonzept würde den betroffenen Familien ein Plus von circa sechs bis 30 Prozent bringen – ein Unterschied, der entscheidend für die Teilhabechancen von Kindern sein kann.

Aus verteilungspolitischer Sicht wäre es zudem sinnvoll, bei der jährlichen Anpassung auch die allgemeine Einkommensentwicklung zu berücksichtigen, sofern die Einkommen stärker steigen als die Preise. Schließlich sollte die Kindergrundsicherung nicht weiter als ohnehin schon hinter der Mitte zurückbleiben, so Becker. Bei ihren aktuellen Berechnungen bleibt dieser Punkt allerdings ausgeklammert. Denn dazu müsste unter anderem geklärt werden, welcher konkrete Indikator – beispielsweise das haushaltsbezogene Nettoäquivalenzeinkommen oder das Nettolohnniveau – zugrunde gelegt werden sollte.

Hans-Böckler-Stiftung direkter Link zum Artikel